Sturzrisiko durch falsch dosierte Medikamente
Tabletten, Kapseln, Tropfen: Insbesondere ältere Menschen nehmen täglich Arzneimittel. Stimmt die Dosis nicht, steigert das die Gefahr, zu stürzen. Die Folgen sind für die Betroffenen oft fatal.
Wie kommt es zu falschen Dosierungen?
Eine Ursache dafür, dass ältere Menschen die falsche Dosis einer Arznei einnehmen, ist Irrtum. Sie verwechseln Medikamente oder interpretieren die Anweisungen falsch. Manche haben auch das Gefühl, das Medikament wirke nicht ausreichend und nehmen noch eine zweite Tablette – nach dem Motto „viel hilft viel“.
„Der häufigste Fehler ist jedoch, dass Ärztinnen und Ärzte Dosierungen verordnen, die nicht an die Nierenfunktion von älteren Menschen angepasst sind“, sagt Martin Wehling. Der Professor für Klinische Pharmakologie war Gründer und langjähriger Leiter des Zentrums für Gerontopharmakologie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Die Hälfte aller Medikamente wird über die Niere ausgeschieden, die Nierenfunktion lässt aber mit zunehmendem Alter nach. Die Nieren arbeiten langsamer, die Menge des Wirkstoffs, die im Körper zur Verfügung steht, ist viel höher. Überhaupt verändert sich der gesamte Stoffwechsel im Alter. Auch die Leber verstoffwechselt Medikamente langsamer. Nehmen 80-Jährige etwa die gleiche Dosis eines Schlaf- oder Beruhigungsmittels wie junge Menschen, erhöht sich das Sturzrisiko. „Die Halbwertzeit kann sich verfünffacht haben, das heißt, es bleibt fünfmal länger im Körper“, erläutert der Experte.
Sind falsche Dosierungen ein weit verbreitetes Problem?
„Wir wissen, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Arzneimittel fehldosiert werden“, sagt Wehling. Gewisse Substanzen sollten bei älteren Menschen zudem gar nicht erst eingesetzt werden, weil sie mehr schaden als nützen. Wehling entwickelte daher das Konzept „Forta – Fit for the Aged”. Es handelt sich dabei um die weltweit einzige Positiv-Negativ-Arzneimittelliste zur Alterstauglichkeit. Sie teilt knapp 300 Substanzen für 30 alterstypische Erkrankungen nach ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit ein. Mit Hilfe der kostenfreien Forta-App können Ärztinnen und Ärzte prüfen, ob das Medikament im Alter durch eine Alternative ersetzt oder gar nicht angewendet werden sollte. Ebenfalls hilfreich ist die „Priscus-Liste“. Sie enthält über 170 Arzneistoffe, die bei älteren Menschen problematisch sein können, und nennt Alternativen.
Welche Medikamente steigern die Gefahr für einen Sturz?
Zu den Arzneimitteln, die einen Sturz begünstigen, zählen zum Beispiel:
- Anticholinergika, die etwa bei Asthma bronchiale oder Blasenfunktionsstörungen eingesetzt werden
- Antidepressiva wie MAO-Hemmer, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer („SSRIs“) oder trizyklische Antidepressiva
- Beruhigungs- und Schlafmittel wie Benzodiazepine und deren Analoga („Z-Drugs“)
- Blutdrucksenker wie ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten und Sartane, wenn sie den Blutdruck zu stark senken
- Diuretika, also entwässernde Präparate („Wassertabletten“)
- Neuroleptika und Antipsychotika
- Prostatamedikamente wie Alphablocker
- sedierende Antihistaminika, sie werden meist als Schlafmittel eingesetzt und sind rezeptfrei erhältlich
Gibt der Körper Warnsignale bei falscher Dosierung?
Erste Anzeichen für eine erhöhte Sturzgefahr durch Medikamente können Wehling zufolge Schwindel, Benommenheit, Denkstörungen – etwa beim Lösen von Kreuzworträtseln – oder Verwirrtheit und selbst Inkontinenz sein. Doch ist das nicht zwingend so, häufig gibt es keine Warnsignale. „Einige dieser Medikamente werden von älteren Menschen über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg zur Behandlung chronischer Krankheiten eingenommen“, sagt Yong Du vom Robert-Koch-Institut (RKI). „Die Einnahme dieser Medikamente ist Teil ihres täglichen Lebens, so dass sie das potenzielle Sturzrisiko möglicherweise nicht bemerken.“ Der promovierte Pharmazeut ist einer der drei Autoren und Autorinnen einer RKI-Studie zum Gebrauch von Medikamenten und Alkohol im Alter. Demnach nahmen mehr als 30 Prozent der teilnehmenden 60- bis 79-Jährigen fünf oder mehr Medikamente ein. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Wechselwirkungen und somit das Risiko von Stürzen.
Ein Gläschen in Ehren?
Sehr riskant ist die Kombination von Alkohol und Arznei. „Ältere Menschen trinken zwar nicht so viel Alkohol wie jüngere Erwachsene, aber sie nehmen mit größerer Wahrscheinlichkeit mehrere Medikamente ein, die mit Alkohol interagieren“, sagt Yong Du. Dazu zählen Psychopharmaka, Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Insulin und manche Diabetes-Medikamente, aber auch rezeptfrei erhältliche Schlaftabletten. So kommt es etwa bei sedierenden Medikamenten und Alkoholgenuss zu einer Wechselwirkung: „Alkohol potenziert dann das Risiko zu stürzen“, warnt Professor Wehling. „Wenn man solche Mittel nimmt, ist jedes Glas Alkohol eine Überdosierung.“
- miu
Wo finde ich weitere Informationen?
Die Broschüre „Medikamente im Alter: Welche Wirkstoffe sind ungeeignet?“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung macht Laien die Informationen der „Priscus-Liste“ zugänglich. Es gibt sie kostenfrei zum Herunterladen.
Die Broschüre „Medikamente im Alter: Risiken und Wechselwirkungen vermeiden“ der Deutschen Seniorenliga gibt es zum Bestellen oder kostenfreien Herunterladen.
Foto (Titelbild): LightField Studios/shutterstock.com