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Gathmann Michaelis und Freunde | Kinästhetik

Kin­äst­he­tik

Was ist Kin­äst­he­tik?

Die Kinästhetik ist ein Bewegungskonzept, das gemeinsame Bewegungsformen an die Stelle dessen setzt, dass eine Person nur bewegt wird, also passiv ist. Bezogen auf die häusliche Pflege heißt das: Der/Die Pflegende und der/die zu Pflegende bewegen sich gemeinsam - der zu Pflegende ist nur nicht passiv, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv.

Wel­che Vor­tei­le bie­tet die Kin­äst­he­tik für pf­le­gen­de An­ge­hö­ri­ge?

Pflegende Angehörige bringen einen hohen körperlichen Einsatz, wenn sie Pflegebedürftige täglich beim Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl, beim Waschen oder Anziehen unterstützen. Durch physiologisch ungünstige Bewegungen, etwa eine dauerhaft falsche Belastung des Rückens, schädigen Pflegende ihren Körper nachhaltig. Pflegende Angehörige werden sich mit Kinästhetik der eigenen, negativen Bewegungsgewohnheiten bewusst. Sie erkennen mögliche Probleme und Überlastungen ihres Körpers und können dann gezielt gegensteuern.

Warum wirkt sich Kin­äst­he­tik auch auf Pf­le­ge­be­dürf­ti­ge po­si­tiv aus?

Mit kinästhetischen Ansätzen werden die noch vorhandenen Kräfte und Bewegungsmöglichkeiten von Pflegebedürftigen gezielt eingesetzt. Pflegende Angehörige sind dann entlastet. Davon profitiert auch der Pflegebedürftige. Denn seine körperlichen Fähigkeiten werden durch die Beanspruchung aktiviert und unter Umständen sogar verbessert.

Wo gibt es Kur­se, wer über­nimmt die Kos­ten und wo be­kom­me ich wei­te­re In­for­ma­tio­nen?

Kurse, in denen ergonomische Bewegungsabläufe erlernt werden, gibt es deutschlandweit. Auch individuelle Schulungen im häuslichen Umfeld sind möglich. In einigen Fällen übernimmt die Pflegekasse die Kosten. Fragen Sie bei Ihrer Pflegekasse nach.
Weitere Informationen zur Kinästhetik bietet Kinaesthetics Deutschland.

In­ter­view mit Ki­na­es­thetics-Trai­ne­rin und -aus­bil­de­rin Ma­ren As­mus­sen-Clau­sen

Einen Angehörigen zu pflegen, ist körperlich oft anstrengend. Mit Kinaesthetics können Pflegende sich die Arbeit erleichtern und zugleich die Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen fördern. Wie das geht, erläutert die Kinaesthetics-Trainerin und -ausbilderin Maren Asmussen-Clausen.

 

Frau Asmussen-Clausen, welche Idee steckt hinter Kinaesthetics?

Maren Asmussen-Clausen: Kinaesthetics ist der internationale Begriff des deutschen Wortes „Kinästhetik“, der „Lehre von der Wahrnehmung der eigenen Bewegung im Alltag“. Es geht um die Frage: Wie kann ich etwas für mich wahrnehmen, was tut mir gut? Zum Beispiel: Wie nehme ich meine Muskelspannung wahr? Wie nehme ich die Lage meiner Körperteile wahr? Wie ist die Organisation meines Gewichtes? Diese innere Wahrnehmung hilft mir, mich zu bewegen, meine Bewegung zu analysieren und zu reflektieren.

 

Und wie hilft einem das bei der Pflege von Angehörigen?

Als pflegende Angehörige kann ich versuchen, den Bewegungsablauf der zu pflegenden Person nachzuspüren. Anschließend kann ich überlegen, wie ich die Person unterstützen kann, ohne sie zum Beispiel zu heben oder zu tragen. Stattdessen biete ich ihr an, dass sie die eine oder andere Bewegung selbst macht. Die Person wird dadurch selbständiger und macht die gute Erfahrung: „Ich kann etwas.“ Das ist für das Lebensgefühl insgesamt sehr wichtig.

 

Machen wir es einmal an einem konkreten Beispiel fest: aufstehen von einem Stuhl. Das läuft oft nach dem Prinzip eins, zwei, drei, Hauruck.

Kinaesthetics nutzt das Prinzip der gehenden Fortbewegung. Ein Schritt hat drei Elemente: Erstens: das Gewicht verlagern. Zweitens: das jeweils entlastete Körperteil begibt sich an einen neuen Ort. Drittens: das Gewicht wieder ausgleichen. Mit anderen Worten: Gehen kann man auch im Sitzen oder Liegen.
Im konkreten Beispiel heißt das: Man sitzt auf einem Stuhl und verlagert das Gewicht etwas zur Seite. Nun ist die andere Beckenhälfte frei von Gewicht und kann etwas nach vorne bewegt werden. Diese selbständige Vorwärtsbewegung wird dadurch abgeschlossen, dass das Gewicht wieder gleichmäßig auf beide Beckenhälften verteilt wird.
Wer an der Stuhlkante sitzt und sich hochbewegen will, bringt zunächst sein Gewicht vom Becken in Richtung Füße, beugt anschließend den Oberkörper etwas vor, stützt sich mit den Armen ab und richtet erst dann seinen Oberkörper auf. Auf diese Weise kann die Person ohne große Anstrengung fast selbstständig zum Stehen kommen. 
Geradezu kontraproduktiv ist es, wenn eine zweite Person ihr beim Aufstehen unter den Arm fasst. Dieser Arm kann dann nicht mehr gut zum Abstützen eingesetzt werden. Das heißt, die Person muss viel stärker mit den Beinmuskeln arbeiten, um sich nach oben zu stemmen.

 

Foto: Halfpoint / stock.adobe.com

Auf der Treppe haken viele Menschen den Pflegebedürftigen an einem Arm unter, während sich die Person mit der anderen Hand am Geländer festhält. Geht es mit Kinaesthetics auch anders?

Die pflegebedürftige Person kann sich seitwärts zur Treppe stellen, sich mit beiden Händen am Geländer festhalten, dann ein Bein auf die Stufe bringen und anschließend das andere. Auf diese Weise wird der Weg nach oben oder unten fast eigenständig bewältigt.

Der oder die Angehörige sichert nur etwas am Beckenkamm oder am Brustkorb, während die pflegebedürftige Person ihre eigene innere Balance findet, sich also mit allen Körperteilen selbst ausbalanciert.

 

Lässt sich Kinaesthetics auch anwenden, wenn jemand im Bett bewegt werden soll?

Hier kommt das Prinzip der sieben Massen zum Tragen. Es lautet: ein Körperteil nach dem anderen. Kinaesthetics unterscheidet zwischen sieben Massen – wie etwa Kopf, Arme, Brustkorb, Becken oder Beine – und Zwischenräumen, zum Beispiel Hals, Schultergelenke oder Taille. Der oder die Pflegende bewegt die zu pflegende Person also nicht im Ganzen, sondern fragt: Kann sie den Kopf zur Seite drehen? Kann sie den Arm verlagern? Kann sie ein Bein anwinkeln? Beide überlegen – und lernen – gemeinsam, wie der oder die Pflegebedürftige selbst aktiv sein und sich Schritt für Schritt im Bett fortbewegen kann.
Genauso ist das Aufsetzen möglich: Entweder dreht sich die pflegebedürftige Person über die Seite, bewegt einen Unterschenkel nach dem anderen aus dem Bett und setzt sich mit Hilfe der Arme auf. Oder man stellt das Kopfteil langsam hoch, bevor sie die Unterschenkel über die Bettkante bewegt. Vielleicht ist auch ein so genanntes Bettband sinnvoll, zum Beispiel ein stabiles Tuch, an dem sie sich mit einer Hand hochziehen kann.

 

Wo und wie können pflegende Angehörige Kinästhetics erlernen?

Ich empfehle, einen Kurs zu machen. Ein Grundkurs Kinaesthetics dauert sieben Einheiten à drei Unterrichtsstunden, damit Bewegungsmuster wirklich neu gelernt werden können. Unser gemeinnütziger Verein hat mit den meisten Pflegekassen Verträge abgeschlossen, sie übernehmen die Kosten für eine individuelle häusliche Schulung. Auch bei den übrigen Pflegekassen kann die Trainerin oder der Trainer einen Antrag auf die Kostenübernahme stellen. Man kann auf unserer Vereins-Webseite nach einer Trainerin oder Trainer suchen oder uns anrufen, wir beraten kostenfrei. Die meisten Pflegekassen ermöglichen auch eine individuelle häusliche Schulung.

 

Das Interview führte Mirjam Ulrich, freie Journalistin, Wiesbaden

"Pf­le­ge da­heim"

Dieses Interview sowie weitere interessante Artikel finden Sie in der Ausgabe 2/23 unseres kostenlosen Magazins ”Pflege daheim" (S. 10f.).

Themenauswahl:

- Auf gute Zusammenarbeit mit dem Pflegedienst
- Was leistet ein Pflegestützpunkt?
- Dekubitus rechtzeitig vorbeugen

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Foto (Titelbild): Freeograph/shutterstock.com

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